Predigt zum 14. Sonntag nach Trinitiatis
von Pfarrer Edgar Dusdal
Lukas 17,11-19
Und es begab sich, als Jesus nach Jerusalem wanderte, dass er durch Samarien und Galiläa hin zog. Und als er in ein Dorf kam, begegneten ihm zehn aussätzige Männer; die standen von ferne und erhoben ihre Stimme und sprachen: Jesus, lieber Meister, erbarme dich unser! Und als er sie sah, sprach er zu ihnen: Geht hin und zeigt euch den Priestern! Und es geschah, als sie hingingen, da wurden sie rein. Einer aber unter ihnen, als er sah, dass er gesund geworden war, kehrte er um und pries Gott mit lauter Stimme und fiel nieder auf sein Angesicht zu Jesu Füßen und dankte ihm. Und das war ein Samariter. Jesus aber antwortete und sprach: Sind nicht die zehn rein geworden? Wo sind aber die neun? Hat sich sonst keiner gefunden, der wieder umkehrte, um Gott die Ehre zu geben, als nur dieser Fremde? Und er sprach zu ihm: Steh auf, geh hin; dein Glaube hat dir geholfen.
Aussätzig, Leprakrank, wer möchte das sein. Überhaupt, wer möchte schon krank oder benachteiligt, erniedrigt, gar verletzt sein? Wer wünscht sich, aufgrund seines Aussehens verlacht zu werden, oder beleidigt und angespuckt zu werden, oder während einer S-Bahn Fahrt bepinkelt zu werden , bloß weil man ein Kind ist, sich nicht wehren kann und kein Deutsch spricht? Wer möchte als Dreijähriger auf der Flucht ertrinken oder im Laderaum eines LKW qualvoll ersticken?
Das sind rhetorische Fragen. Natürlich wünscht sich das niemand. Niemand möchte gequält werden, weil andere Menschen finden, man habe den falschen Glauben. Niemand möchte sein Haus zerbombt haben, weil andere finden, wichtiger als das Lebensglück der eigenen Bevölkerung sei die Durchsetzung der eigenen Machtinteressen. Niemand möchte sein Land von Fanatikern zerstört bekommen. Es möchte auch niemand seine Kinder in Verhältnissen aufwachsen lassen, die wenig Entwicklungsmöglichkeiten und Lebenschancen eröffnen.
Und doch gibt es das alles. Die Nachrichten berichten stündlich von neuen menschlichen Tragödien und Katastrophen und es fällt schwer, zur Zeit an etwas Anderes zu denken oder die Normalität des Alltags zu genießen.
Auch unser Predigttext berichtet von Flüchtlingen, von Zwangsvertriebenen. Denn Lepra ist eine Krankheit, die zur Vertreibung führt. Sie zerstört Haut und Schleimhäute und befällt die Nervenzellen. Das Adjektiv lepros hat die Bedeutung „rau“, „schuppig“, „schorfig“. Die moderne Medizin bezeichnet mit dem Begriff Lepra die so genannte Hansen-Krankheit, die als bakterielle Infektionskrankheit die Haut und das periphere Nervensystem befällt. Sie führt zu Verunstaltungen und Verstümmelungen des Körpers. Mit Lepra war der zu sozialer Ausgrenzung führende Verlust der kultischen Reinheit verbunden, die erst nach Bestätigung der erfolgten Heilung durch einen Priester wiederhergestellt werden konnte.
Der von Aussatz Befallene war einem doppelten Leiden ausgesetzt. Krankheit wurde als Ausdruck von Sünde angesehen. Sündhaftes Verhalten lässt den Menschen krank werden. Der Leprose trägt die Strafe Gottes für sein gottloses Handeln für alle sichtbar am Körper. Seine Sünde ist ihm in den Körper eingeschrieben. Sie plakatiert seine Sünde, für alle schon von weitem sichtbar. So leidet der Kranke nicht nur an seiner unverschuldeten Krankheit, er leidet auch daran, dass er aufgrund dieser Krankheit ausgestoßen, ausgegrenzt und vertrieben wird. Ihm wird keine Hilfe zuteil, weil er zu Recht die Krankheit trägt. Ihm zu helfen, würde sogar bedeuten, sich gegen den Willen Gottes zu stellen. Der Zugang zur normalen Gesellschaft wird ihm verwehrt. Auch zum Tempel.
Er ist stigmatisiert. Der Begriff Stigma bedeutet wörtlich „Stich-, Punkt-, Wund- oder Brandmal“ und steht heute im Allgemeinen für einen Makel, einen Schandfleck, mit dem jemand behaftet ist. Erving Goffman führte den Begriff in die Soziologie ein und verstand darunter Körper-, Geistes- oder Charakterdefekte oder die Zugehörigkeit zur falschen Nation oder Religion. Sie alle können zum Stigma werden. Träger eines Stigmas führen ein schweres Leben. Sie werden abgelehnt. Sie verbreiten Unbehagen, lösen Beklemmungen aus. Andere, mit geheimeren Stigmata Belastete müssen verleugnen, täuschen, spielen, um als normal angesehen zu werden. Wir Normalen, oder Integrierten, verhalten uns so, als ob stigmatisierte Personen nicht ganz menschlich seien, und üben, wenn auch oft unbewusst, eine Vielzahl von Diskriminierungen aus, durch die wir die Lebenschancen der anderen stark beeinträchtigen. Wir konstruieren Theorien, welche die Minderwertigkeit oder die Gefährlichkeit Stigmatisierter nachweisen sollen.
Auch der Flüchtling wird von vielen Normalen als mit einem Stigma behaftet angesehen. Wobei es auch hier graduelle Unterschiede gibt. Für manche ist Flüchtling nicht gleich Flüchtling. Es gibt Flüchtlinge, deren Fluchtgründe ich unter Umständen bereit bin zu akzeptieren, andere lehne ich ab, und damit auch den Flüchtling. Doch fremd können mir alle sein. Fremd und manchmal unheimlich. Wer mit einem Stigma behaftet ist, kann ihm kaum entrinnen. Denn das Stigma zieht er sich nicht selbst zu. Es wird ihm zugeschrieben. Er wird von den Normalen, den Integrierten, damit infiziert, wie mit einer Krankheit. Wie der Aussätzige. Und wie dieser nichts für seine Krankheit kann, so wenig kann der Flüchtling für die Zerstörung seiner Lebenswelt, die ihn zur Flucht zwingt, um überleben zu erhoffen. Und gleichzeitig wird er wie der Aussätzige bewertet. Denn der normal Integrierte sieht sich weder für die Ursachen des Aussatzes noch für die Fluchtursachen verantwortlich. Zu Recht. Aber er möchte auch nicht mit den Konsequenzen konfrontiert werden, die sie für ihn nach sich ziehen könnten. So belässt er die Verantwortung für den Aussatz bei diesem, wie er den Flüchtling für seine Flucht verantwortlich macht. Er selbst sei schuld an seinen Lebensumständen. Er hätte nicht fliehen müssen. Es hätte bestimmt noch andere Möglichkeiten gegeben. Solange Menschen so betrachtet werden, bleiben sie mit einem Stigma behaftet.
Was unternimmt nun Jesus? Wie agiert er mit Normalen und Stigmatisierten? Mit Integrierten und Außenseitern? Mit Ausgegrenzten und denen, die Ausgrenzung produzieren? Die Heilung in unserer Geschichte schafft die Voraussetzung zur Reintegration. Er nimmt sie vor, ohne Vorbedingungen zu stellen. Hilfsbedürftig kommen sie zu ihm und liefern sich seiner Barmherzigkeit aus. „Jesus, lieber Meister, erbarme dich unser“. Jesus thematisiert keine Schuldfragen, warum bist du aussätzig? Oder: Ist es wirklich so schlimm, dass Du zu mir kommen musst? Er sieht das Leiden und hilft. Bedingungslos. Das ist sein Beitrag. Den anderen müssen die Geheilten selbst leisten, jetzt können sie ihre Integrationsbereitschaft unter Beweis stellen.
Doch hier kommt ein irritierendes Moment in die Geschichte : „Einer aber unter ihnen, als er sah, dass er gesund geworden war, kehrte er um und pries Gott mit lauter Stimme und fiel nieder auf sein Angesicht zu Jesu Füßen und dankte ihm. Und das war ein Samaritaner. Jesus aber antwortete und sprach: Sind nicht die zehn rein geworden? Wo sind aber die neun? Hat sich sonst keiner gefunden, der wieder umkehrte, um Gott die Ehre zu geben, als nur dieser Fremde? Und er sprach zu ihm: „Steh auf, geh hin; dein Glaube hat dir geholfen.“ Als „nur“ dieser Fremde. Die Abwertung des Fremden, der zugleich der Minderwertige ist, sie schimmert noch in dieser so eigentlich positiv gemeinten Äußerung auf.
Man könnte, um die Empörung nachempfinden zu können, die damalige Hörer bei der Erzählung empfanden, diese folgendermaßen in die heutige Zeit übersetzen: Es sind unter den zehn Kranken neun Deutsche und ein Ausländer. Die Deutschen sehen es als selbstverständlich an, von Jesus geheilt zu werden. So als ob sie einen naturgegebenen Anspruch oder zumindest einen Rechtsanspruch dazu besäßen. Dieser ist eingelöst und sie ziehen von dannen. Ihre eigentliche Heilung steht aber gerade dadurch noch aus. Der Samaritaner, der Ausländer, aber erscheint in der Erzählung Jesu als der einzige, der Dankbarkeit zeigt, und dadurch deutlich macht, soziales Miteinander beruht auf der Reziprozität von Beziehung. Der Ausländer wird zum Vorbild und wahren Gläubigen.
Nun kann man sich fragen, ob sich die Geschichte wirklich so ereignet hat, hier die undankbaren „wilden“ Mitmenschen, dort der edle, dankbare Ausländer? Oder ob es nicht genug Gegenbeispiele gibt. Ist die Geschichte nicht auch eine Verzeichnung der Realität? Schwarz und weiß lassen sich nicht so einfach verteilen in einer Welt voller Zwischentöne. Doch man könnte auch sagen: Diese Geschichte, so von Jesus erzählt, hat Methode.
Denn Jesus wählt einen neuen Theorieansatz; er verwirft die bisherigen gesellschaftlichen Modelle von Integration, weil sie Ausgrenzung produzieren. Und setzt an ihre Stelle neue. Um diese plausibel zu machen, erzählt er oder besser erzählen die Evangelisten eine bestimmte Art von Erzählungen.
Zuerst zum Theorieansatz: „Als er zu Hause predigt, rufen sie ihn und sagen Jesus, deine Mutter und deine Brüder sind draußen und rufen dich. Er aber entgegnete: Wer ist das, meine Mutter und meine Brüder? Und er ließ seinen Blick unter den Umsitzenden in die Runde gehen und sagte: „Diese hier sind meine Mutter und meine Brüder“. Wer den Willen Gottes tut, der ist mir Bruder, Schwester und Mutter.“ An anderer Stelle formuliert er noch schärfer: „Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater und seine Mutter, seine Frau und seine Kinder, seine Brüder und seine Schwestern und dazu sein eigenes Ich, der kann nicht mein Jünger sein.“ D.h. die, die uns natürlicherweise nahe stehen, und die wir als unsere unmittelbaren Nächsten ansehen, sind es nicht, wenn sie uns daran hindern, in Außenseitern, in Vertriebenen oder Verlorenen den Nächsten zu sehen. Zur Zeit Jesu und darüber hinaus ist die Familie die grundlegende Institution, die die Versorgung des Einzelnen garantiert. Keine Familie, keine soziale Sicherheit, keine Integration. Doch an die Stelle der Familie, setzt Jesus die Gemeinschaft der Gläubigen, später werden daraus die, die sich zum Herrn gehörig begreifen, zur Kirche. Denn aus kyriakos, zum Herrn gehörig, wird unser Wort Kirche.
Familien schaffen Sicherheit. Aber auch Ausgrenzung. Deshalb ersetzt Jesus die Familie durch eine andere Institution, durch die er Ausgrenzung beheben möchte. Familie, das sind wir jetzt alle. Wir sind alle einander Bruder und Schwester. So wie es einen Schöpfergott gibt, der alle liebt, so sollen auch wir alle einander lieben. Das ist ein plausibler Gedanke, durchaus vernünftig, zumindest rational nachvollziehbar. Um diese Wahrheit aber auch emotional nachvollziehbar zu machen, sie in uns zu verankern und für uns zu einer neuen Identität werden zu lassen, erzählt Jesus Geschichten. Durch sie sollen wir in die Lage versetzt werden, eine neue Haltung einzunehmen.
So wie das Foto des ertrunkenen dreijährigen Jungen am Strand der türkischen Stadt Bodrum den englischen Premier David Cameron dazu bewogen hat, seine Haltung gegenüber Flüchtlingen zu ändern, so sollen auch wir durch Jesu Geschichten befähigt werden, uns zu ändern.
Jesus erzählt deshalb Beispielgeschichten, Er verstrickt uns als Hörer in seine Geschichten, in denen es um Fremde, Feinde, Prostituierte, Vertriebene, also letztlich um Außenseiter, um Stigmatisierte geht.
So erzählt er die Geschichte vom Barmherzigen Samariter. Ein Fremder erweist darin die gesuchte Nächstenliebe. Nicht der Priester oder der Tempeldiener, nein der verachtete Fremde in Gestalt des Samaritaners, ausgerechnet der übt Barmherzigkeit, und zwar nicht an seinesgleichen, denn das würde ja wieder zu ihm passen, würde alle Vorurteile bestätigen: Nein der Fremde übt an dem Fremden Barmherzigkeit.
Jesus erlebt die Geschichte mit dem Hauptmann vom Kapernaum, mit einem exponierten Vertreter der Besatzungstruppen, für jeden Widerstandskämpfer das geborene Feindbild. Und ausgerechnet von ihm wird berichtet, dass er das jüdische Volk liebt und eine Synagoge stiftet. Nicht die Frommen tragen durch ihre Spenden zum Bau eines Hauses Gottes bei: nein, ein Vertreter des Unterdrückungsapparates verlässt aus Liebe seine Rolle und wird zum Wohltäter. Wo hat man so was schon gehört!
Und der Evangelist Lukas erzählt über Jesus die Geschichte einer großen Sünderin. Einer porne, also Hure, wie es im griechischen heißt. Was Simon, der sozial angesehene Gastgeber, an Jesus versäumt, ihm Wasser für die Füße hinzustellen, ihm einen Begrüßungskuss zu geben, sein Haupt mit Öl zu salben, vollzieht sie, die verachtete Prostituierte mit Tränen, Küssen und Gesten nach. Ihr wird viel vergeben, wie es heißt, denn sie selbst hat viel geliebt.
Stigmatisierungen beruhen auf Klischees, auf zementierten Vorurteilen. In Geschichten über Jesus oder mit Jesus werden wir mit unseren Vorurteilen konfrontiert. Sie laden dazu ein, uns positiv mit den Stigmatisierten zu identifizieren. Gleichzeitig öffnen sie unseren Blick auf das Schicksal des Einzelnen, geben ihm ein Gesicht und lassen ihn sogar zum Vorbild werden. Die, die man sonst verachtet, werden zu seinen Helden. Jesus gibt den Stigmatisierten ihre Würde wieder. Allein dadurch können sie ihr Stigma überwinden. Geben auch wir den Menschen, die zu uns kommen, ihre Würde wieder. Behandeln wir sie nicht wie Aussätzige, die es zu meiden gilt, so als ob ihnen etwas Ansteckendes anhaften würde.
Er hat nicht gesagt, dass das leicht ist, dass es einfach sei Vorurteile an sich wahrzunehmen und zu verändern, dass es einfach sei, Ängste rational aufzulösen, dass es einfach sei, Widerstände zu überwinden. Aber es ist ein Weg, der zur Heilung einer zerrissenen Welt führen kann, zu einer Welt in der die Liebe Gottes Gestalt findet. Berthold Brecht hat auf die Frage, was für ihn Liebe sei, geantwortet: Liebe ist Arbeit. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen viel Kraft.
AMEN.