nein, dachte ich in jungen Jahren, das soll dir nicht passieren! Du willst dich als Musiker entwickeln, dazu braucht es regelmäßig Veränderung. Du willst nicht als dein eigenes Denkmal herumlaufen, nicht auf einen Ort reduziert werden. Du wirst mit Sicherheit an mehreren Orten wirken.
Diese naiv-theoretischen Überlegungen haben sich natürlich in Berlin schnell erledigt. Denn diese Stadt verkörpert selbst wie keine andere Veränderung, Aufbruch, Herausforderung, so dass man sogar froh sein kann, wenigstens eine Konstante im Leben – in meinem Fall die Erlöserkirche – sich erhalten zu können. Insgesamt fühlt es sich gleichwohl so an, als hätte ich in mehreren Berlins gelebt, an mehreren Gemeinden gearbeitet, mehrere Chöre geleitet.
Die Wahl zum Kantor von Erlöser fiel in die turbulenten Monate Ende 1989. Beim Umzug im Sommer 1990 wirkten die Kirche und das Umfeld allerdings völlig verlassen. Bedingt durch die Sommerferien, herrschte eine gähnende Leere, bei schönstem Sommerwetter traf man kaum einen Menschen, und Kontakte hatte ich auch kaum. Zweifel meldeten sich - hier willst du also dein Glück machen?
Die Proben des Erlöserchores fanden unter skurrilen Bedingungen statt. In einer Ecke des Gemeindesaales bildeten ca. 16 Stühle einen Mini-Halbkreis, größtenteils war der Raum mit Dutzenden Kinderbettchen für den Mittagsschlaf vollgestellt – der Kindergarten siedelte damals komplett im Gemeindehaus! Das Licht war trübe und der Fußboden vermodert...
Erlösung brachte die Fertigstellung des neuen Kindergartens 1992. Der Saal wurde frei, erhielt einen neuen Fußboden und modernes Licht, man fühlte sich wie neugeboren! Der Chor probte jetzt mitten im Saal und wuchs plötzlich so schnell an, dass wir das Wagnis eingingen, für den Herbst 1993, ohne fremde Hilfe, die Aufführung des "Messias" von Händel zu planen. Ein Dreivierteljahr Probenzeit für dieses Werk – heute unvorstellbar, damals aber nötig, denn die meisten neuen Chorsänger waren, anders als heute, völlig unerfahren.
Als wir schon mit den Proben begonnen hatten, stellte sich heraus, dass Erlöser dringend eine funktionierende Heizung brauchte. Es folgte unter Zeitdruck eine hohe Betriebsamkeit, um Gemeinde, Kirchenkreis und Landeskirche in die Finanzierung einzubinden und immer die nötigen Beschlüsse zu fassen – ehe die Firma Mahr, damals als Marktführer völlig ausgebucht, den Auftrag erhielt und die Zusage gab, Ende September fertig zu werden. Die Kirche wurde im Inneren komplett "umgegraben", eine Woche vor dem Konzert war alles fertig. Das Konzert wurde ein großer Erfolg und die Geburtsstunde des eigenständigen Erlöser-Oratorienchores!
Das folgende Jahr 1994 brachte die Leitung des Berliner Konzertchores, einer damals renommierten, durch den Senat direkt geförderten Vereinigung, und damit den Sprung in die (West-)Berliner Öffentlichkeit sowie ein tiefes Eintauchen in Westberliner bürgerliche Milieus. Fünf Abonnementskonzerte jährlich in der Philharmonie, internationale Solisten, luxuriöse Proben-bedingungen, Hochglanz-Programmhefte und Presse-Echo veränderten den Lebensrhythmus gründlich, es war eine ultimative Herausforderung mit prägendem Charakter für den Rest des Lebens. So hatte ich mein Ziel, regelmäßig Chor mit Orchester zu dirigieren, nach vier Jahren in Berlin erreicht, und das gleich mit zwei Chören.
Die relative Abgeschlossenheit beider Arbeitsbereiche, auch die Tatsache, dass die beiden Hälften Berlins damals – kulturell gesehen – wenig Notiz voneinander nahmen (der Westen noch weniger als der Osten), führte zu einer Zweigleisigkeit meiner Arbeit, welche emotional beschwerlich war. Trotz einer Vielzahl unvergesslicher Konzerte in der Philharmonie, samt diverser Gastspiele im In- und Ausland, quittierte ich nach sieben Spielzeiten die Arbeit beim Konzertchor. Beim letzten Konzert 2001 – mit Opernchören – war es dann immerhin gelungen, dass einige Chorsänger aus Erlöser mitmachen durften!
Der Erlöserchor hatte sich derweil gut entwickelt. In anderer Hinsicht waren die 90er Jahre schwierig – es war die Zeit des massiven Stellenabbaus in den Gemeinden, auch mir wurde bedeutet, dass die kleine Erlösergemeinde mich nicht mehr finanzieren könne. Das führte zu manchen Existenzsorgen (wie sich später herausstellte, zu Unrecht, denn eine Kündigung hätte vor dem Arbeitsgericht nicht bestanden). Etwas Erleichterung brachte eine Vereinbarung zwischen der Erlösergemeinde und der Gemeinde Friedrichsfelde, welche – mir sehr freundlich-pragmatisch entgegenkommend – 40% meines Gehaltes übernahm.
Die Gründung der Paul-Gerhardt-Gemeinde brachte eine weitere Vergrößerung des Arbeitsbereiches und damit vielfältige neue Begegnungen. Es war gleichwohl eine etwas unruhige Zeit, denn ein Schwerpunkt meiner Arbeit, die öffentlichkeitsorientierten Konzerte in Erlöser – bisher vor Ort stets mitgetragen – wurde innerhalb der neuen Großgemeinde bezüglich Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit so kontrovers diskutiert, dass der Gedanke an einen Stellenwechsel für kurze Zeit aufkam. Mit dem Beschluss zur Sanierung der Erlöserkirche war dieses Thema allerdings sofort erledigt, und bei der Eröffnung des schmucken Gebäudes fühlte ich mich einmal mehr wie neugeboren! Vorbei die Jahre der Hoffnungslosigkeit, in denen man der Kirche beim Verfall zusehen konnte. Seit 2008 wurde der Aufbau eines stabilen Musiklebens möglich, im schönsten Ambiente und mit sehr guter Infrastruktur – ideal für einen Musiker. Die "neue" Erlöserkirche ist heute bei Publikum und Musikern etabliert, viele Künstler und Ensembles schätzen den Raum als Auftrittsort.
Die verlässlichen Rahmenbedingungen der letzten Jahre, auch das bemerkenswert gute Arbeitsklima unter den Haupt- und Nebenamtlichen, haben der Arbeit nochmals Intensität nach innen und außen verliehen. Corona brachte eine weitere Stärkung des menschlichen Zusammenhalts, und die Musik – deren Besonderheit es ist, alle Energie, die man hineinsteckt, wieder zurückzugeben – wurde noch kostbarer. Nach 30 bewegten Jahren an diesem Ort fühlt sich das alles sehr, sehr gut an!
KMD Matthias Elger