
Wie verabschiedet man sich aus der Blüte des Lebens in den Tod? Als ich meine Freundin Julia das letzte Mal traf, hatte ich keine Ahnung. Ich war völlig hilflos. Ich wusste nur, das wird das letzte Mal sein, dass ich sie sehe und dass ich sie nochmal sehen wollte, wusste ich auch.
Julia und ich hatten uns im Kloster kennengelernt. Dort hatten wir Urlaub gemacht. Urlaub von Erwartungen, Urlaub von Lärm und Hektik und Urlaub von ständig kreisenden Gedanken. Wir mochten uns sofort. Wir haben viel gelacht, waren fasziniert vom Leben der Nonnen, vom tragenden Rhythmus und davon, dass für diese Frauen alles klar zu sein schien, begonnen bei der Frage, was ziehe ich heute an, über wo möchte ich leben und was werde ich arbeiten bis hin zu mit wem möchte ich mein Leben teilen. Uns hat beide die Frage beschäftigt, ob sich das Leben einfacher lebt, wenn diese Fragen alle geklärt sind.
Dass wir uns darauf hin einmal im Jahr im Kloster wiedersehen wollen, stand als stillschweigende Vereinbarung. So trafen wir uns im Sommer und lachten und erzählten von unseren Leben und dem derzeitigen Stand der Beantwortung unserer Fragen. So auch vorletzten Sommer.
Wir haben tagsüber im Klostergarten Unkraut gehackt und Beete angelegt und abends Cidre getrunken und über Männer gelästert. Wir sind den Rundweg ums Kloster gegangen und haben gemeinsam unseren ersten Geocache gefunden.
Kurz darauf schreibt sie, dass sie an Krebs erkrankt ist. Wir sind beide fassungslos. Dieses Thema ist so völlig absurd, jetzt. Hoffen, bangen, Operationen, Chemos, Bestrahlung und alles in einem wiederkehrenden Rhythmus. Als wir uns wiedersehen liegt Julia von der Brust abwärts gelähmt im Krankenhausbett, austherapiert, wie die Ärzte sagen. Wir schlagen uns tapfer. Niemand hat eine Regieanweisung für uns. Julia freut sich, dass ich gekommen bin. Dann lachen wir, erinnern wir uns an unsere gemeinsamen Sommer im Kloster, erzählen wir, wie es uns gerade geht, was passiert ist, in den letzten Monaten. Wir essen Schokopudding als Julia mich fragt, ob ich im kommenden Sommer ins Kloster fahren werde. Ich werde auch da sein, sagt sie, als ich bestätige und, du musst die restlichen Geocaches einsammeln, ich hab schon alle gefunden. Wir stellen uns vor, wie wir gemeinsam im Gästebereich der Kirche sitzen und am Ende der Vesper das "Salve Regina" singen. Wir stimmen beide spontan ein. Ich bekomme eine Gänsehaut. Und wie geht man nun? Wir sehen uns, sage ich, und umarme Julia ein letztes Mal.
Das Kloster ist wie immer und doch anders. Ich habe das Gefühl, die Welt müsste schreien. Alle Schwestern müssten weinen. Der Himmel müsste beben und es müsste blitzen und donnern. Tatsächlich ist es wie in all den Sommern mit Julia. Es ist warm, auf dem Rundweg zerstechen einen die Mücken und das Unkraut kämpft mit dem Salat. Das Haus, in dem wir immer übernachtet haben, ist neu saniert und der Kaffeeautomat ist kaputt. Tatsächlich sitze ich in der Kirche und mir kommen die Tränen, weil ich uns sitzen sehe und höre, wie wir gemeinsam das "Salve Regina" singen. Ich gehe den Rundweg und höre Julia lachen. Ich setze mich auf unsere Bank und höre unsere Fragen an das Leben. Es mischt sich. Die Wut und die Traurigkeit darüber, wie beliebig das mit dem Leben ist und wie egal es dem Lauf der Dinge ist, dass es Julia gegeben hat, mit einer Dankbarkeit, dass ich sie kennenlernen durfte, dass wir ein paar wirklich gute Sommer hier hatten, mit der Demut, ja, so ist es, das Blühen und das Verwelken, das Werden und das Vergehen, des Leben und das Sterben. Sie reihen sich aneinander und ergeben irgendwie ein großes Ganzes.
Ich trinke Cidre und höre Paul Mc Cartneys „Live and let die“. Vielleicht ist das die Aufgabe für alle, die bleiben, leben und sterben lassen.