von Astrid Jabin
Als DDR-sozialisiertes Mädchen hatte ich meinen ersten ernsthaften Kontakt mit Ausländern während des Studiums in Rostock. Das war kurz nach dem Skandal im Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen. Vor laufender Kamera, unter Applaus von Tausenden Anwohnern und den Augen einer handlungsunfähigen oder -unwilligen Polizei wurde mit Molotowcocktails ein Asylbewerberheim in Brand gesteckt. Dabei war die Anzahl der Asylbewerber, die Mecklenburg-Vorpommern aufnehmen musste, niedlich im Vergleich zu den Zahlen derer, die gerade nach Berlin strömen. Mecklenburg-Vorpommern absolvierte seine 2 Prozent und achtete peinlich darauf, die Asylbewerber irgendwo unterzubringen, wo sie nicht mit der Bevölkerung in Kontakt kommen mussten.
Ich fuhr also tapfer einmal die Woche mit einer Mitstreiterin ins Asylbewerberheim in das Umland von Rostock und betreute dort mehrere Kinder in diverser Art. Wir boten eine Mischung aus Deutschlernen, Hausaufgabenhilfe, gemeinsames Essen und Spielen. Ich weiß noch, dass ich sehr aufgeregt war.
Alles was ich bis dahin zum Thema Menschen mit nichtdeutschem Hintergrund gelernt hatte, stammte von meiner Großmutter. Sie war eine sehr fromme und eine sehr leidenschaftliche Frau. Wiewohl in vielerlei Hinsicht Vorbild in meinem Leben, vererbte sie mir zum Thema Umgang mit Menschen aus anderen Kulturen das bekannte Kaffeelied mit dem Muselmann, gruselige Geschichten zum schwarzen Mann aus dem Busch und eine absurde lautmalerische Aneinanderreihung von etwas, das sie mir als chinesisches Lied verkaufte.
Und so fragte ich mich, auf welche Menschen würde ich treffen? Werden wir uns verständigen können? Wie werden sie auf mich reagieren? Haben sie bestimmte Erwartungen an mich?
Vom Bus zu den Baracken gab es einen kleinen Weg durch den Wald. Das Gelände betrat man durch ein großes Eisentor. Es gab einen Pförtner, bei dem wir uns anmelden mussten. Trotz Sommer, blauem Himmel und Seeluft boten die heruntergekommenen DDR-Baracken und die in ihrem Schatten sitzenden Grüppchen von Menschen ein trostloses Bild. Ich unterdrückte alle Gedanken an Panik und Angst.
Am Ende meines Studiums hatte ich mit vielen Kindern angenehme Nachmittage verbracht. Ich habe viele Familien mit ihren Geschichten kennengelernt. Ich konnte in mehreren Sprachen sagen, wie ich heiße, habe kulinarisch meinen Horizont erweitert und erlebt, dass Vorurteile in allen Kulturen das Leben erleichtern.
Vor allen Dingen hatte ich keine Angst mehr, als ich in Berlin meine Stelle als Lehrerin im Wedding antrat. Im Laufe der Jahre dort habe ich viele bunte Menschen kennengelernt. Mit den Erfahrungen zum Thema Unterricht mit Kindern in Problembezirken werden immer wieder Bücher gefüllt. Ich habe festgestellt, dass es keinen Unterschied macht, ob die Kinder deutscher oder nichtdeutscher Herkunft sind. Insgesamt waren die Jahre im Wedding für mein persönliches Werden und Wachsen eine große Bereicherung. Mal abgesehen von den kulinarischen Überraschungen, die ich erleben durfte, ist mir nie jemand so respektvoll beim Thema Glauben an Gott begegnet wie die Kinder aus den muslimischen Familien. Allein, dass ich an einen Gott glaube, machte mich zu jemanden, der etwas teilen konnte, was ihnen wichtig war. Mich beeindruckte immer wieder ihr Wissen über Jesus und die Art und Weise wie sie über ihren Glauben und ihren Gott sprachen.
Ich habe in dieser Zeit meinen Glauben für mich neu abstecken und mit Leben füllen können. Ich habe herausgefunden was meine Liebe zu Gott und mein Christ-Sein ausmacht. Ich habe auch mein Bild von mir als Frau deutlicher machen können und gelernt Unterschiede auszuhalten, die sich mit meinen Vorstellungen und Werten beißen.
Und so sehe ich auf unsere Zeit und erlebe die Angst meiner Mitmenschen aus meinem persönlichen Blickwinkel und frage mich:
Was ist das eigentlich genau, wovor wir Angst haben?
Dass jemand einen anderen Gott hat als wir?
Dass jemand überhaupt einen Gott hat?
Dass jemand ernsthaft seinem Gott sein Leben zu Füßen legt? Viel ernster, als wir es je in Betracht ziehen würden?
Dass jemand kommt und einen Platz wegnimmt, den eigentlich wir haben wollten?
Dass jemand kommt und in einer Art und Weise „Hallo.“ sagt, die uns sehr fremd ist?
Dass einer kommt, hier bleiben will und gar nicht „Hallo.“ sagt?
Dass einer kommt und nimmt, ohne Danke zu sagen?
Dass unser Kuchen kleiner wird, wenn wir ihn teilen?
Dass wir uns erklären müssen, warum wir so und nicht anders leben?
Dass Dinge, die für uns selbstverständlich sind, plötzlich in Frage gestellt werden?
Angst und Empörung. Da gerät etwas Vertrautes in Bewegung. War doch alles gut und jetzt wird es plötzlich so unbequem. Wir müssen uns plötzlich mit Dingen auseinandersetzen, die uns irgendwie nichts angehen. Wir wollen es schön und leicht haben, gerade jetzt wo es doch kalt und nass wird und die Grippewellen uns bearbeiten. Wir wollen uns nicht mit dem Elend der sehr Anderen auseinandersetzen und dahin sehen müssen, wo unsere Politiker etwas verbockt haben. Wir wollen erst recht nicht wissen, dass wir an irgendetwas Schuld sind.
Mich erschreckt, dass niemand empört ist über Waffenlieferungen in Krisengebiete, über wirtschaftliche Intrigen, mit denen wir Ressourcen anderer Regionen ausbeuten, um uns zu bereichern, über die Handlungsunfähigkeit und Gleichgültigkeit von Europa, die Unberührbarkeit von Menschen, die in Deutschland leben, ihr einseitiges Interesse und die fehlende Bereitschaft, einmal mehr hinzusehen.
Ich sehe im Umgang mit den Flüchtlingen eine Chance. Wir haben die Möglichkeit wach gerüttelt zu werden, zu sehen, was in der Welt passiert und was unser Anteil daran ist. Wir haben die Chance, Empörung zu spüren und sie laut an geeigneter Stelle kundzutun. Wir können die Unbequemlichkeit nutzen, um uns in Bewegung setzen zu lassen. Bewegung ist etwas Gutes. Wir haben auch die Chance, uns in unserem Sein, in unserem europäisch-, deutsch-, Christ-, Gemeinde-, Familie-, Mann-, Frau-Sein neu zu definieren, darüber klar zu werden, wer wir sind, wer wir sein wollen, welches die Dinge sind, die uns am Herzen liegen, wie unser Glaube, wie unsere Beziehung zu Gott ist.
Dann entsteht aus dem Abgleich, so bin ich – wie bist du, womöglich ein Geschenk für alle. Dann wird aus unserer Angst der Mut zur Begegnung, eine Möglichkeit für spannenden Austausch, womöglich eine gemeinsame Idee, Zustände zu verändern, ein neues Wachsen und Werden für alle Beteiligten.
Vielleicht ist es unsere Aufgabe, uns zu öffnen und laut zu sein, bei dem, was wir für richtig halten. Auch, wenn das heißt, laut zu streiten mit „Wutbürgern“, nicht nur aus Dresden, Politikern und der Kirchenführung.
Montag, 9. November 2015
Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?
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