
"Ich glaube an die Unantastbarkeit und an die Würde jedes einzelnen Menschen. Ich glaube, dass allen Menschen von Gott das gleiche Recht auf Freiheit gegeben wurde. Ich verspreche, jedem Angriff auf die Freiheit und der Tyrannei Widerstand zu leisten, wo auch immer sie auftreten mögen."
Das ist der Text, der beim Läuten der Freiheitsglocke im Rathaus Schöneberg, die das amerikanische Volk den Berlinern geschenkt hat, gesprochen wurde. Die Sitte ging auf den US-General Lucius D. Clay zurück, der während der Luftbrücke und danach Garant der Freiheit war.
Mit diesen Sätzen bin ich groß geworden. Sie haben mich und viele andere geprägt. Und darum können und dürfen wir heute nicht schweigen.
Wir schauen am 9. November angesichts dieser Worte zunächst auf das Versagen unseres eigenen Volkes, das die zarte Pflanze der Demokratie, die am 9.11.1918 durch die Ausrufung der Republik durch Scheidemann ihren Anfang nahm, nicht zu schätzen wusste; deutlich nicht zuletzt im Hitlerputsch vom 8./9. November 1923 und dessen Folgen knapp 10 Jahre später.
Wir schauen in diesem Zusammenhang auf die große Schuld der Kirche, die in der Weimarer Republik die Chance zur Freiheit fürchtete und bekämpfte und in ihren großen Teilen nach dem 30. Januar 1933 angepasst an das faschistische Regime der Nationalsozialisten lebte. Und diese sind nicht zuletzt auch durch demokratische Wahlen in Deutschland an die Macht gelangt.
Wir schauen bedrückt, verzweifelt und beschämt auf das Schweigen und die Gleichgültigkeit angesichts und gegenüber der Entrechtung, Entbürgerlichung, Entmenschlichung und die Ermordung jüdischer Mitmenschen im 3. Reich und insbesondere am 9. und 10. November 1938 und deren deutsch-perfekt organisierten Vernichtung in den Lagern bis 1945, an denen so viele aktiv und passiv beteiligt waren. Wir gedenken auch anderer politisch und rassistisch Verfolgter.
Wir schauen aber auch darauf, dass dies Geschehen unter und durch unsere Nachbarvölker nicht nur in weiten Teilen hingenommen, sondern teils auch begrüßt worden ist.
Die größte Gefahr für die freie und offene Gesellschaft liegt in ihrer Spaltung unter Verlust der Gesprächsfähigkeit miteinander. Aus dem Miteinander auch mit unterschiedlichen Positionen und Meinungen wird ein Gegeneinander. Aus dem Diskurs und Disput disqualifizierende Sprachlosigkeit. Statt Ziele im vernünftigen Kompromiss oder gesellschaftlichen Konsens zu erreichen, regiert Stagnation. Einzelne Gruppen werden zu Sündenböcken und ausgeschlossen oder diskriminiert.
Im Wahlkampf in den Vereinigten Staaten von Amerika ist das exemplarisch deutlich geworden. Es ist aber keineswegs allein ein amerikanisches Problem. Allerdings ist in diesem Zusammenhang zu fürchten, dass das heutige Wahlergebnis in den USA, anderen Staaten, nicht zuletzt Europas, nur zeichenhaft vorausgeht. Denn oft in der Geschichte des 20. Und 21. Jahrhunderts sind die Entwicklungen der Vereinigten Staaten maßgebend für die Entwicklung in vielen Bereichen des wirtschaftlichen und öffentlichen Lebens gewesen.
Die Spaltungen sind auch in Europa längst sichtbar. Das Problem des Auseinanderdriftens von Arm und Reich ist hier wie dort sozialpolitischer Sprengstoff, dem die Politik oft nichts oder doch viel zu wenig entgegenzusetzen weiß. Das Gegeneinander, der Riss in der Gesellschaft wird immer offensichtlicher. PEGIDA und AfD verlassen den gesellschaftlichen Grundkonsens unserer Verfassung – oder haben ihn nicht längst so viele verlassen, ohne es laut zu äußern, so dass PEGIDA und AfD erst möglich wurden? Beginnt das nicht damit, wenn auch Vertreter/innen von Parteien des sogenannten demokratischen Spektrums Forderungen aufstellen, die unter menschenrechtlichen Gesichtspunkten kaum erträglich sind? Bewahren wir die Menschenrechte, wenn wir sie in vertraglich mit uns verbunden Ländern im vermeintlichen Interesse der je eigenen Wählerklientel mit Füßen treten lassen wie in der Türkei – und dazu schweigen bzw. halbherzige Kommentare abgeben, ohne wirklich Konsequenzen zu ziehen, die gegebenenfalls auch Konsequenzen für uns selbst haben könnten?
Die Grundprinzipien von Solidarität, Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden, auf denen der europäische Einigungsprozess basiert, verlieren sich in nationalen Egoismen, partikularistischen Bestrebungen und Sozialneid. Hilflose Arroganz scheint die einzige Antwort der Organe der EU darauf zu sein.
Statt Zukunft zu gestalten, wird versucht – buchstäblich auf Teufel komm raus – Vergangenes zu bewahren. Der ‚kleinste gemeinsame Nenner‘ ist häufig so kleinkariert, dass er schon wieder ‚uni‘ wirkt. Damit verspielen wir die Lebensgrundlage unserer Kinder und zukünftiger Generationen. Und das nicht nur im Rahmen kleinkarierten Denkens im Hinblick auf den Klimawandel, wie wir es in diesem Tagen auch erleben.
Der immer noch währende Krieg in der Ukraine droht in Vergessenheit zu geraten oder wird – schlimmer noch - zur Gewohnheit. Konzeptlosigkeit kennzeichnet den Umgang mit der Syrienkrise und den Umgang mit dem IS. Die Verantwortung wird auf andere abgewälzt. Der israelisch-palästinensische Konflikt ist unserem Blickfeld längst entschwunden. Und im Umgang mit Terror in Europa und der Möglichkeit von Anschlägen im eigenen Land wird bestenfalls zwecks verbesserter Sicherheit mit der Einschränkung von Freiheitsrechten reagiert.
Das Gefühl der Ohnmacht angesichts dieser Entwicklungen ist allgegenwärtig. Perspektiven zur Konfliktlösung scheitern an Kleinmut, Engstirnigkeit und in Teilen wohl auch politischer Dummheit, die nur den kurzfristigen Effekt für das eigene, ggf. das parteipolitische Image im Blick hat.
Vernunft und Argumente werden durch ‚gefühlte Wahrheiten‘ ersetzt; Sachkenntnis verabschiedet sich und Halbwissen und geistig sehr schlichte, unbewiesene Behauptungen beherrschen das Feld.
Diese bahnen sich nicht zuletzt, aber nicht nur in populistischen, politischen Bewegungen ihren Weg, weil diese trotz komplexer Sachverhalte vermeintlich einfache Lösungen anzubieten vorgeben. Sie befreien sich von der Notwendigkeit eigenen, verantwortlichen Handelns. Es werden Zäune gebaut, Mauern errichtet, Einreise unmöglich gemacht – und schon ist das Problem gelöst. Wunderbar!
Und leider entzieht Kursichtigkeit und Dummheit naturgemäß oft der Kraft von Argumenten und guten Worten.
Allerdings darf uns das nicht resignieren lassen. Der 9. November des Jahres 1989 ist ein Beispiel dafür, dass auch das unmöglich Geglaubte wahr werden kann. Dass Beharrlichkeit und Gebet nicht per se vergeblich sind. ‚Wir waren auf alles vorbereitet, aber nicht auf Kerzen und Gebete‘ wird in diesem Zusammenhang einem Stasi-Offizier in den Mund gelegt.
Das Gebet vermag die Welt zu verwandeln, weil es uns verändert. Weil es – auch und gerade in der Gemeinschaft mit Mitbetenden – dem Beter neue Kraft und frischen Mut geben kann. Weil es in der inneren Einkehr außen neue Horizonte öffnen kann. Weil es nicht aufzuhalten ist durch Mauern und Grenzen, verbale oder Waffengewalt. Und weil Gott auf verantwortliche Gebete und Taten wartet, und mit denen ist, die ihn vertrauensvoll anrufen.
Sein Wort gibt uns Bilder und Ansporn zur Gestaltung der Welt:
Liebe zu üben, wo man sich hasst,
zu verzeihen, wo man sich beleidigt,
zu verbinden, wo Streit ist,
die Wahrheit zu sagen, wo der Irrtum herrscht,
den Glauben zu bringen, wo der Zweifel drückt,
die Hoffnung zu wecken, wo Verzweiflung quält,
ein Licht anzuzünden, wo die Finsternis regiert,
und Freude zu machen, wo der Kummer wohnt,
um es in Worten des Souvenir Normand von 1912 zu sagen. Amen.
Pfarrer Joachim G. Cierpka