Die nachfolgende (leicht gekürzte) Predigt wurde am 6. Sonntag nach Trinitatis zum Beginn der Sommerferien in Karlshorst gehalten.
Die Sonne scheint hell auf das Auto. Mit schwarzen Rollos versuchen die Kinder, die Wärme etwas abzuschirmen. Im Radio läuft eine Kassette. Vivaldis "Sommer". Die "Urlaubsmusik", wie die "Vier Jahreszeiten" familienintern genannt werden. In einer blauen Kühlbox befindet sich köstlicher Proviant. Beschmierte Brote, gekochte Eier, Bouletten, Wassermelone - gekühlt mit Eisbomben. Von vorn duftet es nach Kaffee. Die Stimmung ist heiter, die Landschaften fliegen vorbei. Bald erreicht man den Hafen und fährt in den Bauch des Fährschiffes. Männer in neongelben Westen weisen die Richtung. Dann legen die Eltern die Verantwortung für die weitere Reise in die kundigen Hände des Kapitäns und der Crew. Die Kinder erkunden mit dem Vater Deck für Deck, füttern verbotener Weise Möwen, schauen der weißen Schaumstraße hinterher und sehen das Land am Horizont verschwinden. Die Mutter hat einen freien Liegestuhl am Sonnendeck gefunden. Sie schlägt ihr Buch auf. Endlich. Endlich freie Zeit. Was für ein Glück so reisen zu können! So zu reisen ist Luxus, Standard nur für Besserverdienende. Nicht jeder kommt in diesen Genuß. Nicht jede kann die Beine hochlegen und andere machen lassen. Das ist trotz der modernen Verkehrsmittel an Land, auf dem Meer oder in der Luft immer noch ein besonderes Privileg. Für nicht wenige Kinder in Deutschland ist ein solches Vereisen mit einer heilen Familie unvorstellbar. Geschweige denn in viel ärmeren Ländern. Das sollten wir nicht vergessen.
Zur Zeit des Neuen Testamentes war das gewiss noch extremer. Wegstrecken wurden in der Regel zu Fuß hinter sich gebracht. Pferde wurden hauptsächlich im Krieg eingesetzt. Wer auf einem Reittier unterwegs war, oder gar in einem Wagen saß, der hatte in der Tat eine höhere Position inne. Sei es von Geburt, sei es kraft eines besonderen Amtes. Der Predigttext (Apg 8,26-39) erzählt die Geschichte eines afrikanischen Eunuchen, vermutlich mit dunkler Hautfarbe. Seinen Namen kennen wir nicht. In der Lutherübersetzung wird er aufgrund seines Amtes als "Kämmerer" bezeichnetet. Er stammt aus Äthiopien, vermutlich einer Region, die heute zum nördlichen Sudan gezählt wird. Ein Ort am damaligen "Rand der Welt". Er hatte eine hohe Stellung am Hof seiner Königin Kandake inne. Er war ihr Schatzmeister. Kastraten, die sonst von der Gesellschaft verachtet und verspottet waren, eigneten sich für diese Position, da sie ihr Amt nicht für die Versorgung ihrer Kinder und Enkel missbrauchen konnten. Sie hatten keine eigene Familie. Der Mann war auf dem Heimweg aus Jerusalem in Richtung Gaza. Auch wenn Kastraten nicht zum Judentum übertreten konnten, bekannte er sich zum jüdischen Gott und reiste sehr weit, um JHWH am gelobten Ort anzubeten. Trotz aller Einschränkungen war der Kämmerer offenbar kein trübsinniger Mann. Nach seiner Wallfahrt nutzte er die Reisezeit auf dem Wagen zum Lesen. Wie die Mutter auf der Fähre. Ein Glück, wer überhaupt lesen konnte in jenen Tagen. Der Mann wählte keine einfache Lektüre: Die Schriftrolle des Propheten Jesaja. Er war gerade an einer besonders merkwürdigen Stelle (Jes 53,7-8), als er am Straßenrand den Diakon Philippus traf. Dieser Philippus, vermutlich ein Mitglied der Jerusalemer Urgemeinde, hörte, dass der Kämmerer die Rolle des Jesaja las und fragte – etwas herausfordernd: "Verstehst Du denn auch, was Du da liest?" Als hoher königlicher Beamter hätte der Kämmerer Philippus zurechtweisen können. Doch stattdessen antwortete er freundlich und weise: "Wie kann ich, wenn mich niemand anleitet?" Und er bat Philippus, aufzusteigen und sich zu ihm zu setzen. Die Bibel ist an vielen Stellen nicht leicht zu verstehen. Ohne Menschen, die uns dabei helfen ihre Inhalte zu erläutern, verstünden wir sicherlich so manches nicht.
Da ist zum Beispiel der alte Brauch der Taufe. Der 6. Sonntag nach Trinitatis hat die Taufe zum besonderen Thema. Wenn wir die einschlägigen Texte des Neuen Testaments lesen, dann fällt uns dreierlei auf. Erstens: Getauft wurde schon vor Jesus. Dafür steht das Wirken Johannes des Täufers, der die Menschen zur Umkehr rief. Er taufte Jesus im Jordan. Seit her ist die Taufe mit Wasser eine feste Tradition. Zweitens: Jesus gab seinen Jüngern vor der Himmelfahrt den Auftrag, den wir im Evangelium (Mt 28,16-20) lesen: "Gehet hin und lehret alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe." Was die Taufe für Jesus aber konkret bedeutet, sagt er hier nicht. Diese Deutung ist Aufgabe der Theologen. Und so steht – drittens – insbesondere das Werk des Apostel Paulus für die Entwicklung einer spezifisch christlichen Tauftheologie. Kürzlich saß ich mit einer erwachsenen Frau zusammen beim Taufgespräch. Bei unserem Gespräch über Jesus kamen wir natürlich auch auf die Taufe und die paulinischen Briefe zu sprechen. Mir kam Paulus ein bisschen so vor wie Philippus. Einer, der erklärt wie eine Glaubensaussage zu verstehen ist. Es ist allerdings nicht einfach, seine Sätze über die Taufe zu verstehe und noch schwerer, sie weiterzuvermitteln. Lesen wir die Epistel (Röm 6,3-11), so erfahren wir Paulus Kerngedanken: Die Taufe ist eine Taufe in den Tod Christi: "So sind wir ja mit ihm begraben durch die Taufe in den Tod." Bitte was? Ich hatte das Glück, bereits 11 Taufen in meinem Vikariat durchführen zu dürfen. 10 Taufen davon waren Kindestaufen. Wie sollte ich den Tauffamilien erklären, dass wir hier einen Todes-Ritus zelebrieren? Die Familie und Gemeinde feiert öffentlich den Beginn eines neuen Lebens und der Vikar redet vom Tod? Man könnte auf den Gedanken kommen, "den Paulus" bei der Taufe einfach heraus zu lassen. So hat es mir neulich eine Frau vorgeschlagen. Was ist also zu tun? Ich denke, es kommt erstens darauf an, wie sehr man die paulinische Deutung der Taufe betont und zweitens natürlich, wie man sie versteht. Wie kommt Paulus darauf, die Taufe als "Taufe in den Tod" zu bezeichnen? Das lag zunächst einfach daran, dass zur Zeit des Apostels Ganzkörpertaufen üblich waren. Die Täuflinge wurden in Seen oder Flüßen komplett untergetaucht. Das Untertauchen deutete Paulus als Mitsterben mit Christus, der für die Sünden der Menschen am Kreuz gestorben ist. Die Taufe macht also den Täufling frei von seinen Sünden. Nach dem Mitsterben mit Christus können wir mit dem Auftauchen symbolisch das Mitauferstehen des Menschen mit Christus erhoffen. Der Ritus der Taufe war also auch bei Paulus letztlich kein Todes-Ritus. Er hatte den Zweck, den Menschen von der Sünde zu befreien – hin zum Leben, ja zum ewigen Leben bei Gott. Wenn noch heute Taufkinder weiße Kleider anhaben, symbolisieren sie mit dieser Farbe der Reinheit den Zustand des getauften, von Sünden befreiten Menschen.
Wir müssen Paulus nicht weglassen. Die Lektüre der Schrift mag aufschlussreich sein. Wirklich relevant und lebendig werden die Inhalte unseres christlichen Glaubens aber wohl erst da, wo wir uns über sie austauschen. Wie im Taufgespräch, sei es mit Kindern, Eltern, Paten oder erwachsenen Täuflingen. Da wo ernsthafte Fragen diskutiert werden, wo eigene Positionen und Glaubensüberzeugungen auf Zweifel treffen, wo auch Platz für Emotionen ist, da gibt es nicht nur neue Erkenntnisse und Inspirationen zu gewinnen, nein, es entsteht auch Gemeinschaft. Taufen sind seit den neutestamentlichen Taufen ein Aufnahmeritus in die christliche Gemeinde gewesen. Auch heute noch Applaudieren wir freudig nach der Taufe, wenn z.B. ein getauftes Baby der Gemeinde präsentiert und als neues Mitglied aufgenommen wird.
Wir wissen nicht, was Philippus und der Kämmerer auf dem Wagen in Richtung Gaza genau besprochen haben. Ob sie überhaupt an Sünde und Tod dachten? So wie Paulus? Der Kämmerer fragte nach einer Deutung der Jesaja-Stelle, was Philippus dazu brachte, das Evangelium von Jesus zu predigen. Das Gespräch muss so gut gewesen sein, sei es inhaltlich, sei es emotional, dass der Kämmerer den Wagen anhielt und sich in einem nahegelegenen Gewässer von Philippus taufen ließ.
Und dann folgt im Predigttext der letzte - für das Verstehen der ganzen Perikope - so entscheidende Satz: Der Kämmerer "zog aber seine Straße fröhlich". Die Taufe ist ein fröhliches Fest. Bitte! Und dabei soll es auch bleiben! Christus hat den Tod besiegt! Die Gemeinde feiert in der Taufe die Teilhabe am Leib Christi für alle Getauften. Dabei hat die Geschichte des schwarzen Eunuchen, des hohen Finanzverwalters am königlichen Hof, der als Fremder von einem Fremden getauft wurde, durchaus einen inklusiven Gedanken. Wenn jemand mit einer solchen Biographie dank der Taufe fröhlich seines Weges ziehen kann, dann ist das ein Zeichen dafür wie viel Kraft und Solidarität Kirche schenken kann. Zur Gemeinde Christi gehören alle Getauften, egal welcher Hautfarbe, welchen Geschlechtes, welcher Herkunft, welcher beruflichen Stellung, welcher familiären Bindung, welchen Bildungsstandes oder welchem Grad der Behinderung. Das bestätigt auch Paulus (Gal 3,28): "Alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt eins in Christus Jesus." Eine schöne Vision vom gemeinsamen Leben. In der Kirche und darüber hinaus.
Wie nah sind wir dieser Vision in der Realität? Wie begrüßt unser Kontinent, wie begrüßt Deutschland, wie begrüßen die Kirchen Menschen, die heute mit unglaublichen Biographien aus Afrika ins gelobte Europa kommen wollen, um hier aufgenommen zu werden? Das was derzeit auf allen politischen Ebenen diskutiert und beschlossen wird, ist weder christlich noch sozial. Es ist unverantwortlich, eigensinnig und vor allem unmenschlich. Das sogenannte christliche Abendland sollte sich schämen und den Ruf Johannes des Täufers nach Umkehr hören. Menschen, die andere Menschen beim Lebenretten behindern, laden schwere Schuld auf sich. Denn so viel ist klar: Der Erlass unserer Sünden in der Taufe ist kein Schulderlass im rechtlichen Sinne und auch kein Freifahrtsschein, im Namen Gottes zu tun, was dem Evangelium von Jesus Christus widerspricht. Das mindeste, was wir Christinnen und Christen angesichts der katastrophalen Situation im Mittelmeer tun können, ist ein klares Bekenntnis für Mitmenschlichkeit zu formulieren. Auf dass es die Welt höre! Dass es in unserer Gemeinde seit Jahren ein dezidiertes Engagement für geflüchtete Menschen gibt, macht mich persönlich sehr froh.
Liebe Gemeinde, ich wünsche Ihnen einen gesegnete Zeit. Sehen und erfahren Sie Neues. Ob Sie mit der ganzen Familie verreisen oder zuhause sind. Legen Sie die Beine hoch. Hören Sie gute Musik. Gönnen Sie sich mal wieder ein gutes Buch. Es kann, muss aber nicht die Bibel sein. Und tauschen sie sich miteinander über ihre Gedanken aus. Es kann so bereichernd sein. Ziehen sie ihrer Wege fröhlich! Amen.
Vikar Jakob Falk